BY Jörg Heiser in Reviews | 09 JUN 12

dOCUMENTA (13): Wichtiges abseits der Hauptorte in Kassel

Diese Documenta hält viele Überraschungen bereit, und das vor allem dank der KünstlerInnen, denen die Möglichkeit gegeben wurde, ambitionierte Projekte zu realisieren. Der hohe Anteil an sehr guten künstlerischen Positionen, die eingeladen wurden, ist erfreulich. Dennoch kann man nicht einfach hinweggehen über die strukturellen Fragen, die diese Documenta aufwirft und die uns noch für Jahre beschäftigen werden – vor allem was die Frage der Konzeptualisierung angeht und den (fehlenden) Mut zum Weglassen und zum Erzeugen von Kohärenz. Das betrifft sowohl den Umfang allgemein (es sind ungefähr 2000 Termine im Rahmen dieser Documenta anberaumt) als auch die Form, die einzelne Werke nehmen. Einige arbeiten mit dem Prinzip der Überladenheit und der Verwirrung (mal mehr, mal weniger erfolgreich), und einige wenige, die ich bisher gesehen habe, basieren auf einer klaren und strikten Ökonomie der Mittel, inklusive meines bisherigen Highlights, der Theateraufführung des französischen Choreographen Jérôme Bel.

J
BY Jörg Heiser in Reviews | 09 JUN 12

Aber bevor ich auf Bel komme, noch etwas zu anderen Projekten, die wie seines außerhalb der Hauptorte, jedoch im Kasseler Stadtzentrum stattfinden. Dabei geht es meist um Werke einzelner Künstler, die in geschlossenen Kinos, Bunkern oder leerstehenden Häusern installiert sind. Wer meint, er könne diese schnell abhaken auf dem Kasseler Parcours, muss sich darauf einstellen, dass es tatsächlich einen ganzen Tag braucht, will man sie einigermaßen vollständig sehen. Es gibt 30 Orte allein in Kassel, wobei die Karlsaue alleine noch einmal 53 Projekte umfasst; man könnte also in Versuchung kommen, die über die Stadt verteilten Einzelprojekte zu ignorieren. Besonders wenn man auch noch vorhaben sollte, sich ein paar Wochen Urlaub zu nehmen und gehörig viel Zeit und Geld zu investieren, um die offiziellen Documenta-Stationen in Ägypten, Afghanistan und Kanada zu besuchen. (Dem scheint eine Logik der Überbietung zugrunde zu liegen: nicht nur mehr, sondern auch immer weiter voneinander entfernt liegende oder schwierig zu erreichende Orte; 2002 führten “Plattformen” nach Lagos und die Karibik; 2007 wurde das Restaurant El Bulli in Spanien zum offiziellen Teil der Documenta erklärt; wie könnte man das also 2017 noch toppen – Antarktis? Wasiristan? Tschernobyl? Der Mond?)

Würde man sich allerdings die Kasseler Orte jenseits der Hauptstätten bei dieser Documenta sparen, würde man nicht nur einige gelungene Beiträge, sondern auch die Chance verpassen, sich Arbeiten anzuschauen, denen großzügige Entfaltung außerhalb der übergreifenden und zuweilen erdrückenden kuratorischen Postulate zugestanden wurde, die ansonsten an Orten wie dem Ottoneum (dem naturhistorischen Museum) herrschen. Dort werden mit Arbeiten wie der von Claire Pentecost – Barren aus Kompost, die auf vergoldeten Tischen gestapelt sind und eine Währung auf Basis kompostierter “Scholle” darstellen sollen (Soil-erg, 2012) – oder dem Kräutergärtchen von AndAndAnd auf unausgegorene, bemühte und weitgehend humorfreie Art und Weise ökologische Heilversprechen vorgebracht. (Überhaupt gibt es generell einen Hang zum Gärtnern bei dieser Documenta, so als wolle man den frommen lutheranischen Spruch vom Apfelbäumchen illustrieren, das es vor dem Weltuntergang noch zu pflanzen gelte.)

Aber wie gesagt, es gibt viel Gutes zu sehen. In Christy Langes erstem frieze-Blog-Beitrag zur Documenta (auf Englisch hier) war bereits von Tino Sehgals zwanzig im Dunkeln singenden und sprechenden Protagonisten die Rede und von dem leerstehenden Wohnhaus, das von Theaster Gates gemeinsam mit Chicagoer Musikern nach Jazzprinzipien kollektiver Improvisation skulptural aus- und umgebaut wurde. Noch ein paar Häuser weiter ist die elegant zurückhaltende Präsentation von Francis Alÿs zu sehen, postkartengroße Gemälde, auf denen abstrakte Farbstudien nach Vorbild von Fernsehtestbildern mit fragmentierten Kabuler Straßenszenen kontrastiert sind, die eben so sehr von dem Zweifel zeugen, ob es eine „angemessene“ Art gibt, eine kriegsverheerte Nation darzustellen wie von dem Bedürfnis, eben dies zu tun; eine einfache Notiz auf Englisch, an ein Pinboard geheftet, zeugte davon noch einmal auf andere Weise: „Bei 1943 denke ich an Morandi, malend, oben auf dem Hügel, umgeben vom Faschismus… Ich denke an Picabia, wie sich an der Côte d’Azur von Softporno-Magazinen inspirieren lässt… Ich denke an Leni Rieffenstahl, die Tiefland mit Statisten aus Konzentrationslagern dreht… Ich denke an Blinky Palermo, der in den Trümmern Leipzigs geboren wird…“).

Man hätte glauben können, Trisha Donelly hätte ähnliches vorgehabt, denn auf dem Kino, in dem ihr Beitrag zu sehen war, steht in großen Lettern Lachsfischen im Jemen – aber das ist natürlich der Titel des neusten Films von Lasse Halström; stattdessen wurde drinnen Donellys undurchdringlich schöner, abstrakter, stummer Film als kontinuierlicher Loop projiziert. Dunkelgrau flackernde und schimmernde Muster suggerieren zu gleichen Teilen zerfetzte Schleier im Luftzug wie digitale Fehler, so als betrachte man keinen Film, sondern das Gespenst eines Films. Das Tolle an der Arbeit ist nicht nur ihr seltsam hypnotisierender und augentäuschender Effekt, sondern auch der darin enthaltene Kommentar zum Niedergang der klassischen Kinoerfahrung, dabei ganz ohne Sentimentalität und Nostalgie.

Ein Filmprojekt Tacita Deans, für das sie – selbst nicht dort anwesend – einen Kameramann instruierte, in Kabul diverse Orte zu filmen, konnte nicht realisiert werden, weil das gefilmte Material sich für die Künstlerin als unbrauchbar erwies. Aber Dean machte das Beste daraus, indem sie eine ganze Gruppe großformatiger Wandzeichnungen mit Kreide auf Schiefertafel in den Räumen des ehemaligen Finanzamts realisierte, welche ansonsten von mit Messing verziertem Treppenaufgang und Balustrade dominiert werden.

Diese fragilen und unversiegelten Zeichnungen afghanischer Berg- und Flusslandschaften beinhalteten – ganz im Stil früherer Arbeiten dieser Art – fragmentarische Anspielungen auf handschriftliche Storyboard-Anweisungen (“ein Schwenk”, “2. Anglo-Afghanischer Krieg”). Einer davon hörte sich beinahe wie ein Kommentar zur documenta an: zwischen zwei schneebedeckten Gipfeln ein horizontaler Pfeil und die Worte „narrative Richtung“.

Als nächstes bekam ich einen Bauarbeiterhelm und betrat die Bunkergänge unter dem Kasseler Weinbergterrassen. Der Film Raptor’s Rapture (Des Raubvogels Entrückung, 2012) von Allora & Calzadilla ist hier am richtigen Ort: Ausgangspunkt ist die 2009 in einer süddeutschen Höhle entdeckte Flöte, die vor 35000 Jahren aus dem Knochen eines Gänsegeiers geschnitzt wurde. Die Künstler beauftragten eine Flötistin damit zu versuchen, dem Instrument Töne zu entlocken, und zwar in Gegenwart eines lebenden Gänsegeiers. Das Tier reagiert relativ unbeeindruckt auf das systematische Durchprobieren verschiedener Spielweisen, wobei die entstehenden Zisch- und Rauschlaute eine Art akustische Zeitkapsel ergeben, die zum ersten Mal nach langer Zeit geöffnet wird (das Äquivalent zu Archäologen, die in ferner Zukunft Daten von einem antiken Hard Drive entschlüsseln). Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Gänsegeier um eine besonders bedrohte Tierart handelt, bekam die filmische Inszenierung – mitsamt der betont langsamen und präzisen Kameraarbeit – natürlich einen (sicher beabsichtigten) perversen und tautologischen Beigeschmack: Schließlich hört das Tier gespenstischen Lauten zu, die auf dem Knochen eines Vertreters seiner eigenen Spezies erzeugt werden.

Die Platzierung von Allora & Calzadilla in den Tunneln leuchtet sofort ein; bei der Installation des Afghanisch-Amerikanischen Künstlers Aman Mojadidi dagegen war das nicht so. Resolution (2012) scheint ein Märchen vom Krieg zu erzählen (Drachen als Luftwaffe etc.), wodurch allegorische Verbindungen zwischen Kabul in Kriegszeiten und dem Grimmschen Kassel geknüpft werden. Selbst wenn sich einem der Sinn der Geschichte einer Zigarettenverkäuferin sofort erschlossen hätte (was bei mir nicht der Fall war, obwohl ich eine ganze Weile in der Installation verbrachte), blieb es schwer nachzuvollziehen, warum das Buch auf einem Podest zum Durchblättern in einem Tunnel präsentiert wurde, zugleich aber an gleicher Stelle als Tonaufnahme vorgelesen wurde, so als müsse der Akt des Lesens selbst noch einmal verdoppelt und als quälende Lehrstunde inszeniert werden (wenn genau das die beabsichtigte Botschaft der Installation gewesen sein sollte, dann kam sie an). Womit gesagt sein soll, dass Mojadidis Buch sicher interessante Beobachtungen enthält, deren Erschließung aber von der Art der Inszenierung unnötig und exzessiv erschwert wird.

Dieses Gefühl blieb einem nach Rückgabe des Helms erhalten auf dem steilen Weg die Weinterrassen hinauf, die allerdings keine Weinstöcke bereit hielten, sondern eine große Anzahl monumentaler Außenskulpturen von Adrián Villar Rojas, gemacht aus Holz, Stein, Zement und mit ungebranntem Ton überzogen. Dass sie wie aschebedeckte antike Ausgrabungen aussehen, ist sicher beabsichtigt, zugleich wirken sie aber wie allzu gegenwärtige Neo-Surrealismen, die von so verworrenen wie stereotypen Vorstellungen von Natur (das Neugeborene in der Eierschale) und Technologie (ein riesiges Zahnrad) ausgehen.

Durch diese Art der Kunsterfahrung war man endgültig reif für die einfache konzeptuelle Klarheit, die die Theaterperformance Disabled Theater (Behindertes Theater, 2012) von Jérôme Bel souverän über neunzig Minuten unbehaglicher, vorurteilsherausfordernder Entfremdung und Empathie trug. (Das Stück wird während der Eröffnungstage live aufgeführt und anschließend ersetzt durch eine filmische Version mit dem Titel 2 Dances [2012]; im Rahmen der Ruhrtriennale wird es ebenfalls aufgeführt).

Der Vorhang geht auf und ein stoisch ruhiger Zeremonienmeister sitzt am seitlichen Bühnenrand, bedient die kleine Beschallungsanlage, übersetzt nebenbei noch vom Deutschen ins Englische und kündigt an, dass die Schauspieler des Stücks von Bel gebeten wurden, zunächst einzeln jeweils eine Minute still am Bühnenrand zu verharren. Die elf Protagonisten tun dies und nach kurzer Zeit wird deutlich, dass der Titel des Stück wörtlich zu verstehen ist: Eine Mehrzahl unter Ihnen hat die äußeren Merkmale des Down Syndroms. Das erzeugt Unbehagen auf Seiten des vermeintlich „intelligenten“ Publikums, denn schließlich muss es ja zwangsweise voyeuristisch eine vermeintlich „behinderte“ Person anstarren. Aber dies war nur die erste von fünf Stufen, die nach und nach genau dieses Unbehagen auseinander nahmen, und zwar ohne der Versuchung nachzugeben, dies durch platte Pointen, Zynismus oder Sentimentalität zu erreichen.

Für den zweiten Teil, der wie alle folgenden mit einfachen Worten angekündigt wurde, wurde ein Mikrophon aufgestellt, damit diesmal die Darsteller ihren Namen, ihr Alter und ihren Beruf nennen. Was den Beruf angeht, sagten alle „Schauspieler“ bzw. „Schauspielerin“ – was auch stimmt, denn sie sind alle Mitglieder der Züricher Theatergruppe HORA (woraus sich auch das Schweizerdeutsch erklärt).

Beim dritten Teil ging es um die Frage, welche Behinderung die Beteiligten hätten: und jeder von ihnen gab sie einfach an, von Lernschwäche bis zu den verschiedenen Begriffen wie „Down Syndrom“, „Trisomie 21“ oder auch, wie es eine Darstellerin in Zurückweisung der üblichen klinischen Begrifflichkeit und stolzer Aneignung der üblichen abwertenden Terminologie in schwyzerdütsch ausdrückte: “Ich bin ne scheiß Mongoloide.”

Der vierte und fünfte Teil folgte im Großen und Ganzen der klassischen Logik von Höhepunkt und Auflösung. Bei der Vierten ging es darum, dass sieben der Schauspieler kurze Tanzvorführungen machten, die sie mit individueller Musikauswahl und entsprechenden choreographischen Entscheidungen gestalteten. Michael Jackson’s They Don’t Really Care About Us wurde gekonnt und intensiv getanzt, aber natürlich nicht mit der Perfektion, die man von professionellen Tänzern erwartet; und trotzdem hatte man nicht das Gefühl, dass nur „guter Wille“ im Spiel war – der eigene, der der Tänzerin – sondern aufrichtige Liebe zu Musik und Tanz. Dancing Queen von Abba ist ein Song, der mich selbst als Muzak in der Hotellobby noch anrühren kann; und bei Bel tanzte die selbe Darstellerin, die sich als „mongoloid“ bezeichnet hatte, dazu mit Heavy-Metal-mäßiger Hingabe – es gab rauschenden Applaus und gemischte Gefühle verwandelten sich schlagartig in allgemeinen Enthusiasmus.

Beim fünften und letzten Akt ging es um die an die Darsteller gerichtete Frage, wie sie das Stück finden: Einige sagten „gut“ oder „super“, andere erzählten kleine Geschichten. Einer zitierte seine Mutter mit den Worten, sie finde, das ganze sei eine Freakshow, aber es habe ihr trotzdem gefallen. Ein anderer erzählt, seine Schwester habe ihm Auto geweint, weil er wie im Zirkus vorgeführt würde. Das Ganze wirkte aber nicht wie routiniert abgespulte, dekonstruktive Selbstreflektion – wie so oft bei zeitgenössischer Kunst –, sondern zeugte von einer schrittweisen Wandlung des Stücks: von der autoritativen, abwesenden Stimme Bels (der “Zeremonienmeister”, der fortwährend Sätze à la „Jérôme Bel möchte dies und möchte das“ sagt etc.) zu den autonomen Stimmen der Darsteller selbst: Sie düpieren die Freakshowtendenz, indem sie die Möglichkeit nutzen, ihre Beobachtungen zu formulieren oder eben einfach ihren ganz eigenen Tanz aufzuführen.

Es gibt eine Reihe Künstler, die von Jérôme Bels Stück noch das eine oder andere lernen könnten: wie man sich nicht vor schwierigen Konfrontationen scheut und doch nicht in bloßen Tabubruch oder – ganz genauso daneben – moralische Selbstgerechtigkeit verfällt. Ich bin froh, dass ich dieses Stück in Kassel nicht verpasst habe.

Jörg Heiser is director of the Institute for Art in Context at the University of the Arts, Berlin, Germany.

SHARE THIS