BY Jörg Scheller in Frieze | 12 JUN 15

Aktuelle Ausstellung: Hans Schärer – Aargauer Kunsthaus

Derzeit begegnet man ihnen vielerorts: Insider-Outsidern. Der avancierte Kreativkapitalismus sieht es gern, wenn Figuren von den Außenseiten der Kultur auf deren Innenseiten wechseln – Business-Punks, Nerd-Milliardäre, Anthroposophen-Entrepreneurs, Major-Label-Satanisten oder Outsider-Artists. Wurden letztere traditionell bevorzugt in speziellen Biotopen gehegt und gepflegt – man denke an die Kunstsammlung des Psychiaters und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn oder an Charlotte Zanders Outsider-Dauerausstellung auf Schloss Bönnigheim – so sieht man ihre Werke mittlerweile immer öfter in Zusammenhängen, in denen man gemeinhin Insider-Artists erwartet. Eingeläutet wurde der heutige Insider-Outsider-Boom von Harald Szeemanns epochemachender documenta 5, die 1972 Bilder der Alltagskultur wie auch die Kunst von, wie es damals hieß, „Geisteskranken“ ganz selbstverständlich miteinbezog. Heute bevölkern ehedem als „naiv“, „primitiv“, „verrückt“ oder doch wenigstens als „Sonderlinge“ eingestufte Künstler Gruppenausstellungen wie die 55. Biennale di Venezia (Massimiliano Gionis The Encyclopedic Palace, 2013), sind auf eigens für sie eingerichteten Messen vertreten (etwa auf der mondänen Outsider Art Fair, Paris/New York) und werden mit Einzelausstellungen in Kunstmuseen gewürdigt (etwa Adolf Wölfli im Kunstmuseum Bern, 2008). So verhält es sich auch mit dem Schweizer Hans Schärer (1927–97), dessen kuriose Madonnenbilder und derb-erotische Aquarelle aus den 1960er, 70er und 80er Jahren gerade im Kunstmuseum Aarau zu sehen sind.

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BY Jörg Scheller in Frieze | 12 JUN 15

Im Alter von 21 Jahren beschloss der vormalige Berufsschüler, Künstler zu werden und zog 1949 nach Paris, wo zu dieser Zeit die Art Brut im Aufschwung war. Die Zeichen standen also gut für Autodidakten wie Schärer. 1956 zurück in der Schweiz, gelang es ihm, mit reger Ausstellungstätigkeit im Kunstbetrieb zu reüssieren. Die Aarauer Ausstellung dürfte – nachdem Gioni Schärer bereits 2013 in seiner Venedig-Ausstellung gezeigt hatte – dazu beitragen, dass das zu Lebzeiten weitestgehend auf die Schweiz beschränkte Interesse nun auch international weiter zunehmen wird.

Im Kunsthaus geht es allerdings weniger enzyklopädisch zu als in Venedig. Aus dem breiten Schaffen Schärers, der sich auch als Musiker oder Keramiker betätigte, hat die Kuratorin Madeleine Schuppli, abgesehen von wenigen Ausnahmen, einzig die Madonnen und erotischen Aquarelle ausgewählt. Betritt man die Ausstellung, so sieht man sich mit einem gefühlt nicht enden wollenden Defilee von Tafelgemälden voll ikonenhafter Mütter Gottes konfrontiert – „ikonenhaft“ dahingehend, dass Schärer, vergleichbar der byzantinischen Sakralästhetik, hier eine einzige Bildformel variiert. Stets handelt es sich um Brustporträts. Die Köpfe gehen ohne Hälse in babuschkahafte Körper über. Physiognomische Details sind auf ein Mindestmaß beschränkt. Auf Höhe des Solarplexus prangen häufig ovale, Vulven assoziierende Bildelemente, gleichsam Schnittstellen zwischen Sakralem und Sexuellem.

Im Kunsthaus wird nicht nur ersichtlich, wie fließend die Übergänge zwischen der gemeinhin als „manisch“ oder „obsessiv“ beschriebenen Outsider-Art und altehrwürdiger Kirchen-, aber auch serieller Kunst sein können. Sondern auch, wie groß der Unterschied zwischen Schärers Originalen und deren Reproduktionen ist. Im Internet oder in Katalogen könnte man Schärer für einen schrulligen Pop-Künstler halten: knallig, bunt, flat. Im Museum hingegen dominiert in jenen Details, welche die Reproduktionen verheimlichen, der Art-Brut-Charakter. Schärer assemblierte beispielsweise Muscheln oder Steinchen in seine Gemälde hinein (Madonna mit Muscheln, 1974) oder evozierte einen unseren profanen Zeiten angemessenen Goldgrund mit billigen Blechstreifen (Madonna, 1982).

In den erotischen Aquarellen findet man das Rohe eher auf der Motivebene. Zünglein schnellen da auf Genitalien und Brüste zu, Popöchen recken sich frivol in die Höhe, Pfaffen vögeln dralle Wuchtbrummen, junge Frauen begeben sich nackt auf Schlittenfahrt (Schlittenfahrt, 1971). Das ist natürlich hochgradig politisch inkorrekt, lässt aber andererseits an Deichkinds unhintergehbare Fundamentaldiagnose denken: „Fettabsauger, Spargelstecher, Professoren / Träumen auch von FKK in Rockstar-Posen.“ Hinter dem gegenwärtigen Hang zur Outsider-Art, so viel küchenpsychologische Spekulation sei gestattet, könnte sich die indirekte Wunscherfüllung einer verschämten Konformistenkultur verstecken: Einmal so unverfrönt den eigenen Obsessionen folgen, einmal so unverstellt die eigenen schmutzigen Fantasien ins Bild setzen wie Schärer es tat!

Jörg Scheller is an art historian, journalist, musician and contributing editor of frieze. He is a professor of fine arts and art education at Zurich University of the Arts, Switzerland.

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